Start Erzgebirge Der EHV Aue und der unmögliche Punkt
Artikel von: Sven Günther
22.11.2019

Der EHV Aue und der unmögliche Punkt

Benas Petreikis, der EHV Mittelaufbauspieler bereitete mit einem Mega-Anspiel das Unentschieden vor. Foto: Manja Gehlert

Wie der EHV Aue Hermann Hesse bestätigt

Von Sven Günther
Lübeck. Manchmal passiert es, dass Zitate großer Dichter und Denker im schnöden Hier und Heute bestätigt werden. Nehmen wir den Meisterschreiber Hermann Hesse, der es wie kein zweiter Literat verstand, den Gefühlen seiner Figuren Worte zu geben. Man lese “Unterm Rad”, “Kinderseele” oder “Klein und Wagner”. Ihm, Hesse, wird der Ausspruch: “Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen” zugeordnet.

Die Handballer des EHV Aue sorgten im Zweitligaspiel gegen den VfL Lübeck-Schwartau, das 23:23 endete, aktuell für die Bestätigung des geflügelten Wortes.
Die punktbringende Szene, die man auf Sportdeutschland TV bewundern kann, wurde dort als besonders zeigenswert ausgewählt und mit “Aues Petreikis mit Mega-Anspiel zum Unentschieden” überschrieben.

Das war passiert: Petreikis bekommt fünf Sekunden vor Schluss den Ball von Adrian Kammlodt.
Es ist UNMÖGLICH eine Finte zu machen, weil keine Zeit da ist.
Auch ein Wurf ist UNMÖGLICH, weil der Auer Mittelmann zwölf Meter vom Tor entfernt ist.
Selbst ein Abspiel scheint UNMÖGLICH, weil VfL-Deckungsspieler Steffen Köhler schon Körperkontakt zu Petreikis hat, seine linke Hand bedrohlich nah am Ball ist.
UNMÖGLICH ist ein gefahrbringender Pass scheinbar auch, weil Bengt Bornhorn (die einzige sinnvolle Option) am Kreis von Jan Schult (zehn Sekunden vorher hatte der Kammlodt erfolgreich am Wurf gehindert) gedeckt und kaum anspielbar ist.

Aber Petreikis versucht das UNMÖGLICHE und hat Erfolg.

WEIL sich Bornhorn mit einem schnellen Schritt nach rechts, seinen Gegenspieler Schult leicht nach links schiebend, einige Zentimeter Platz verschafft.
WEIL Petreikis in letzter Sekunde das Spielgerät mit einer Art Schleuderwurf in Richtung seines Kreisläufers bugsiert.
WEIL Bornhorn den Ball fängt, sich blitzschnell dreht und ihn aufsetzend im langen Eck unterbringt.

23:23! Ein Unentschieden, das sich wie ein Sieg anfühlt!

Noch eine Situation haben die Kollegen von Sportfernsehen TV aus der Begegnung  ausgewählt. Eine Szene, die selbst Handball-Experten wie Rüdiger Jurke staunen lässt.

Bornhorn steht in der 22. Minute beim Stand von 9:7 am Siebenmeterstrich, hatte eben noch am Boden klebendes Hartz mit dem Ball aufgewischt. Der seit dem Spiel gegen den HC Elbflorenz zum Strafwurf-Vollstrecker Auserkorene täuscht einmal an, tippt das Runde dann präzise durch die Beine des starken VfL-Keepers Dennis Klockmann (zwölf Paraden, 40 Prozent Quote) in Richtung des Eckigen. Das Leder nimmt seinen Weg zur Torlinie – und bleibt, wie von Geisterhand gestoppt, auf selbiger kleben. Jurke in der Halbzeit: “Zu viel Harz am Ball. Ich habe so etwas noch nie gesehen.”

Was er in der ersten Halbzeit gesehen hatte, machte ihn wankelmütig. Auf der einen Seite registrierte er einen stark beginnenden EHV, der beim VfL Lübeck-Schwartau, dessen Verantwortlich das Ziel Aufstieg ausgegeben haben, mit 6:3 in Führung ging. Andererseits musste er beobachten, wie die Gastgeber, die alle in der Vorwoche noch verletzt pausierenden Spieler mit an Bord hatten, aufholten, ausglichen und in den letzten zehn Minuten eine Vier-Tore-Führung zum 14:10 herauswarfen.

Jurke: “Wir haben in dieser Phase ein wenig den Faden verloren und mussten einige Schiedsrichter-Entscheidungen hinnehmen, die nicht glücklich für uns waren.” Dazu kam, dass Dennis Klockmann im VfL-Tor exzellent hielt. Aber der EHV-Manager blieb optimistisch: “Hier ist auf alle Fälle etwas drin.”

Rüdiger Jurke, der Seher aus dem Lößnitztal, der Optimist, der Fachmann? Wie auch immer. Er sollte Recht behalten, obwohl die dramatische Schluss-Szene (siehe oben) nicht zu prognostizieren war!
Dass es überhaupt dazu kommen konnte, lag an mehreren Punkten.
Der EHV-Mittelblock Kevin Lux, Kevin Roch und Petr Slachts stemmte sich immer gegen die Angriffe des VfL. Der späte Wechsel auf eine 5:1-Variante in der Auer Defensive war ein taktischer Schachzug, der die Gastgeber schmerzte. VfL-Trainer Piotr Przybecki: „ Die Umstellung der Auer Abwehrformation auf 5:1 war für mich mitentscheidend. Das hat unseren Rhythmus in der Schlussviertelstunde völlig unterbrochen.”

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Ein weiterer Punkt ist auf der Homepage des VfL Lübeck-Schwartau zu lesen: “Auf der anderen Seite konnte der ansonsten sehr gefährliche Rückraum des EHV weitestgehend im Zaum gehalten werden. Der erfolgreichste Werfer der bisherigen Saison, Adrian Kammlodt (RL), und sein Pendant Ladislav Brykner (RR) waren von der VfL-Abwehr beinahe zur Bedeutungslosigkeit degradiert worden. Dafür war ein anderer Gästespieler umso erfolgreicher: Kreisläufer Bengt Bornhorn erzielte insgesamt sieben Treffer und hielt seine Mannschaft immer wieder auf Schlagdistanz.”

Schließlich brachte Stephan Swat, wieder seiner Intuition folgend, kurz vor Ende für den guten Torwart Erik Töpfer (10 Paraden, 34 Prozent) Keeper Vilius Rasimas, der drei Würfe der Angreifer zum Teil spektakulär entschärfte. Vor allem seine Parade in der 58. Minute, als er den Ball des Ex-Auers Sigtryggur Dadi Runarsson mittels Spagatschritt parierte, hielt den EHV im Spiel und sorgte dafür, dass Trainer Stephan Swat im letzten Angriff sieben Feldspieler aufs Parkett schicken konnte, die dann das Unmögliche versuchen sollten…

An Herrmann Hesses Zitat wird keiner im Team nach dem Schlusspfiff, in der Kabine und während der Heimfahrt im Bus gedacht haben. Da gab es von Pascal Ebert passend ausgewählte Party-Mugge und ein verdientes kühles Wernesgrüner…

Manager Rüdiger Jurke: “Einfach überragend, was wir in Lübeck geleistet haben. Das Spiel war sicher nichts für Feinschmecker. Von beiden Seiten gab es viel Kampf und manchmal auch Krampf. Aber wir freuen uns riesig, haben nach fünf Jahren hier wieder einen Punkt geholt.”

Jetzt kommt am 29. November 19 Uhr der TUSEM Essen in die Erzgebirgshalle nach Lößnitz. Ein Handball-Leckerbissen, den sich kein Fan entgehen lassen sollte. Ein Sieg gegen den aktuellen Tabellenführer (20:4 Punkte) ist dabei scheinbar UNMÖGLICH. Scheinbar…