Start Chemnitz Der Tesla unter den E-Rollstühlen
Artikel von: Judith Hauße
05.05.2023

Der Tesla unter den E-Rollstühlen

Robert Bär (Reha aktiv, l.) und René Stephan (Scewo BRO, r.) stellten den E-Rollstuhl der neuen Generation in Chemnitz vor. Fotos: Judith Hauße

Treppensteigender Elektrorollstuhl aus der Schweiz nimmt Fahrt in Sachsen auf

Als gesunder Mensch vergessen wir oft, mit welchem Glück wir da eigentlich gesegnet sind. Wir gehen erhobenen Hauptes durch den Alltag. Ja, Gehen. Für Millionen von Menschen ist das aber keine Selbstverständlichkeit. Für körperlich eingeschränkte Menschen ist der Rollstuhl oft die letzte Lösung.

Mit einer Studi-Arbeit hat alles angefangen

Wer selbst noch nie in eben diesem saß, kann sich nicht vorstellen, was es bedeutet, sein Leben damit bestreiten zu müssen. Ein Problem, das nicht neu ist, aber durch immer neue Lösungsansätze ins Rollen gebracht wird. Wie etwa auch vom Unternehmen Scewo BRO. Ein Schweizer Start-Up, das sich vor wenigen Jahren dem E-Rollstuhl der neuen Generation verschrieben hat. „Der Tesla unter den Rollstühlen“, wie Bernhard Winter sagt. Der junge Co-Gründer wollte eigentlich nur ein Thema für seine Masterarbeit in Maschinenbau und Verfahrenstechnik finden. Bis ihm ein Dozent etwas über den Zürcher „Cybathlon“ erzählte – einen Wettkampf für Menschen mit Behinderungen, die mit Hilfe von modernen technischen Assistenzsystemen beim Lösen von alltäglichen Aufgaben gegeneinander antreten. Gemeinsam mit Kommilitonen der ETH sowie der Zürcher Hochschule der Künste entwickelte der Student daraufhin innerhalb von neun Monaten den Elektro-Rollstuhl „Bro“.

WochenENDspiegel im Praxistest

Die patentierte Formel liegt im kombinierten Rad- und Raupenantrieb. Zum Rollen wird er mit einem Lithium-Ionen-Akku mit 30 Amperestunden Kapazität gebracht. Das Herzstück des Ganzen ist eine eigens dafür programmierte Software, wie René Stephan, Außendienstmitarbeiter in Deutschland bei seinem Besuch am Chemnitzer Reha-aktiv-Standort an der Zwickauer Straße erklärte. Für WochenENDspiegel war ich vor Ort und habe den Selbstversuch gewagt. Denn seit kurzem kann der Elektrorollstuhl auch auf den sächsischen Straßen alle Blicke auf sich ziehen. „Reha-Aktiv in Chemnitz ist bislang der erste Partner in Sachsen“, sagt Stephan.

Klar, Rollstühle gibt es inzwischen in verschiedenen Varianten, immer auch an die jeweiligen Bedürfnisse des Nutzers angepasst. Beim BRO macht aber die Technik den Unterschied. Er kann zwar alles das, was auch ein „handelsüblicher“ E-Rollstuhl kann, die Besonderheit liegt jedoch in der Beschaffenheit. Statt auf vier oder drei, fährt das Schweizer Modell auf zwei Rädern – ohne Einsatz der Rumpfstabilität. „Man sitzt aufrechter, was wiederum die Rumpfmuskulatur entlastet“, erklärt Robert Bär, Teamleiter Außendienst bei Reha-aktiv in Chemnitz. Robust ist der weltweit einzige E-Rollstuhl dieser Art auch bei unterschiedlichstem Untergrund. „Man bleibt mit Hilfe des hydraulichen Sitzes immer in der Waagerechten – ein Herausfallen ist quasi unmöglich. Etwas, was derzeit kein anderer Rollstuhl bieten kann“, erzählt René Stephan vom Scewo-Team im Gespräch, während ich bereits Platz nehme. Meine Runde auf dem Modell „Harry“ führt mit bis zu 10 km/h zum Treppenhaus. „Da geht es jetzt hoch?“, frage ich René. „Ja, dank Raupentechnologie kann der Nutzer problemlos Treppen bewältigen.“

Der BRO schafft dabei eine Steigung von bis zu 72,6 Prozent – in einer Minute 30 Stufen. Oben angekommen, erkennt der Schweizer E-Rollstuhl dank Sensoren das Ende der Treppe von selbst. Dann geht es wieder abwärts. Und das allein durch Knopfdruck, nur das Lenken obliegt dem Nutzer.
Auch ein Gespräch auf Augenhöhe oder der Griff ins untere Regal ist dank des Höhenverstellmodus auf bis zu 87 Zentimeter machbar.
Gesteuert wird der BRO über eine App auf dem Smartphone oder via Steuerkonsole, die links oder rechts angebracht werden kann. Richtung und Geschwindigkeit werden per Handjoystick geändert. Zudem lernt das Gefährt mit dem Anwender mit – durch regelmäßige Software-Updates wird es laufend durch neue Funktionen gefüttert. „Ein Nutzer fragte, ob man nicht eine Heizdecke benutzen könnte. Unsere Entwickler haben sich dann etwas einfallen lassen und seit dem hat der BRO eine USB-Funktion, an die man mitunter auch eine Heizdecke anstecken kann“, erinnert sich Stephan. Inzwischen ernten die Unternehmensgründer mit ihrer Technik, viel positive Resonanz – auch weltweit, wie etwa jüngst auf der CES 2023 in Las Vegas.

Krankenkasse erkennt neuen E-Rollstuhl an

Der Ehrgeiz zahlt sich aus: mit ihrer Technik haben es die Jung-Unternehmer vor zwei Jahren ins deutsche Hilfsmittelverzeichnis des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV Spitzenverband) geschafft. „Ein großer Schritt und enorm wichtig in der Anerkennung als vollwertiger Elektrorollstuhl“, wie René Stephan weiß, gleichzeitig aber auch einräumen muss, dass dies nicht die vollständige Kostenübernahme durch die Krankenkasse garantiere, es aber sehr erleichtere, wie er erklärt. Denn der 162 Kilo schwere BRO, der in der Schweiz produziert und verschickt wird, hat ein Verkaufspreis von 36.000 Euro.
Wer sich für ein Modell interessiert, sollte sich an den jeweiligen Kostenträger wenden, u.a. die Krankenkasse, Arbeitsagentur oder die Gesetzliche Rentenversicherung. Die Beratung findet im Sanitätshaus statt. Berater und Techniker werden hierfür regelmäßig in der Schweiz geschult. Bevor es allerdings auf die Straßen geht, ist eine thereotische und praktische Einweisung für den Nutzer durch das Service-Team Pflicht. Geeignet ist der BRO für alle Personen, denen es kognitiv und physisch möglich ist, einen Elektrorollstuhl mit der Hand zu bedienen und zu lenken.