Start Chemnitz Erinnerung wird wachgehalten
Artikel von: Redaktion
11.11.2015

Erinnerung wird wachgehalten

Rund hundert Menschen wohnten der Gedenk-  und Einweihungsveranstaltung am Montagabend bei. Dieter Nendel (re.) ist der Initiator des Projektes. Foto: ihst
Rund hundert Menschen wohnten der Gedenk- und Einweihungsveranstaltung am Montagabend bei. Dieter Nendel (re.) ist der Initiator des Projektes. Foto: ihst

Chemnitz-Zentrum. Mehr als 300 Chemnitzer Juden wurde im Oktober 1938 aus der Stadt ausgewießen, daran erinnert eine neue Gedenktafel auf dem Chemnitzer Hauptbahnhof.Das erschreckende: Nur zwei Stunden nach der Enthüllung war die Gedenktafel Opfer von Beschmierungen geworden. Ein 52-Jährigen alkoholisierten Mann hatte es mit roter Farbe besprüht. Mitarbeiter eines angegrenzenden Geschäftes hatten die Polizei informiert, die den Täter stellte. Die Ermittlungen zum Vorfall dauern an.

Bis 1945 war der Verkehrspunkt Ausgangsort für die Deportation von jüdischen Menschen in Richtung Osten. Für viele ist die Gedenktafel an jenem Ort, wo für viele Menschen die Reise ins Ungewisse begann und für viele bedeutete es den sicheren Tod. 1933 lebten in der Stadt rund 3500 Menschen mit jüdischem Glauben.

Dieter Nendel ist gebürtiger Chemnitzer und lebt seit 1954 in Gera. Die Verbindung zur Heimat ist immer geblieben.

„Ich bin auf der Wartburgstraße in Chemnitz aufgewachsen und war mit sechs Jahren Zeitzeuge der Progromnacht.

Die Erinnerungen an jenen 9. und 10. November haben mich nie richtig losgelassen. Vor allem die Zerstörung am nächsten Morgen habe ich noch vor Augen,“ erinnert sich der über 80-Jährige.

„Mein Wunsch war es eine Erinnerungsstätte zu schaffen, wo alles ihren Anfang nahm,“ fügt Nendel hinzu.

 

Karl Clauss Dietel (li.) und Siegmund Rotstein (re.) im Gespräch vor der neuen Gedenktafel in der großen Halle des Chemnitzer Hauptbahnhofes. Foto: ihst
Karl Clauss Dietel (li.) und Siegmund Rotstein (re.) im Gespräch vor der neuen Gedenktafel in der großen Halle des Chemnitzer Hauptbahnhofes.
Foto: ihst

Am Montagabend war für ihn dann der bewegende Augenblick gekommen, nach zweijähriger Bemühung endlich die Gedenktafel zu sehen. Die Gestaltung der Tafel übernahm der Chemnitzer Formgestalter Karl Clauss Dietel.

„Als Kind erlebte ich zu Kriegsende den Marsch von jüdischen Frauen aus einem Konzentrationslager durch unser Dorf, während des Studiums lehrten an unserer Hochschule auch aus der Emigration zurückgekehrte Lehrer. Die von den Nazis über Deutschland gebrachte Schande und den von ihnen ausgelösten Weltkrieg kann ich nicht vergessen. Darin gründete meine Zusage, die Gedenktafel zu gestalten,“ erklärt Karl Clauss Dietel und fügt zu seiner Gestaltungsidee hinzu:

„Zur Gestaltung schlug ich einen großen Kreis als Sinnbild alles Lebendigen vor. Die Grundfläche ist leicht konkav gekrümmt als Hinweis auf erlittenes
Leid. Ein strukturdifferenziertes Sechseck ist dem Kreis eingeschrieben. Es assoziiert damit verbundene Symbole. Im Sechseck ist die Schrift angeordnet. Ein mit dem Beginn der Deportationen 1938 beginnendes Raster, verfremdend zwischen die Schrift gesetzt, assoziiert die typisch deutsche Präzision und Logistik, mit der die Vernichtung unaufhaltsam vorangetrieben wurde. Das Raster endet mit dem Radius des Kreises in großen, offenen Halbkreisen, die beabsichtigte ‚Auslöschung‘ darstellend.“

Bei der Einweihnung der Gedenktafel am Montagabend waren auch Vertreter des Stadt-, Land- und Bundestages anwesend.

„Ich bin überwältigt über die Zahl der Menschen, die gekommen sind. Es ist ein authentischer Ort für den 9. November.Hier wurden nach fahrplanmäßiger Taktung ab 1938 von der Reichsbahn die Juden deportiert. Ich finde es gut, dass die Deutsche Bahn auf ihrem Bahnhof einen Platz für die Erinnerung gibt,“ erklärt Detlef Müller.

Er hatte die Gedenktafel finanziell unterstützt. Rund 100 Leute waren am Montagabend auf den Bahnhof gekommen, um ein Zeichen zu setzen für Erinnung und auch gegen Terror und Fremdenfeindlichkeit.

Für viele ist der Bahnhof sinnbildlich der Ort, an dem alles begann, dass unterstreicht auch Hans-Rüdiger Minow, Initiator  der Aktion und Autor des Buches  „Der Zug der Erinnerung, die Deutsche Bahn und der Kampf gegen das Vergessen“:

„Die Shoah begann spätestens auf den Bahnhöfen und nicht er in den Vernichtungslagern. Es ist wichtig, dass die Deutsche Bahn und der deutsche Staat als juristische und historische Erben ihr Aufgabe anerkennen und auch einen finanziellen Ausgleich zu schaffen. Und dennoch finde ich es einen mutigen Schritt der Deutschen Bahn, hier an diesem Ort eine Gedenktafel anzubringen.“

Viel Juden haben durch die vorherige Enteignung durch die Faschisten ihr Ticket in den Tod förmlich selbst bezahlt.

„Was wir heute tun, tun wir nicht für die Vergangenheit, sonder für uns und unsere Kinder,“ gibt Minow am Ende zu bedenken.

Die neue Gedenktafel fügt sich in eine Reihe an Denkmäler zum Schicksal der jüdischen Bevölkerung ein. Enthüllt wurde die Tafel am Montagabend von Justin Sonder, einem Auschwitz-Überlebender, und Siegmund Rotstein, Ehrenbürger der Stadt Chemnitz und ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde.
Den Text der Tafel verfasste der Historiker Dr. Jürgen Nitsche.