Start Erstes Interview des neuen NGG-Chefs
Artikel von: Sven Günther
05.05.2021

Erstes Interview des neuen NGG-Chefs

Thomas Lißner im Gespräch mit Sachsens SPD-Generalsekretär Henning Homann beim Warnstreik bei Cargill in Riesa. Foto: NGG

“Wir brauchen einen Aufbruch Ost”

Region. Bäckermeister Thomas Lißner (42) aus Annaberg-Buchholz ist neuer Chef der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) für die Region Dresden-Chemnitz.
„Ich freue mich auf die Aufgabe und will mithelfen, einen Aufbruch Ost im Gewerkschaftslager voranzutreiben. Gerade bei uns in Sachsen brauchen wir mehr Wertschätzung und Anerkennung für die Arbeit in der Lebensmittelwirtschaft und Löhne, von denen man vernünftig leben kann und später nicht in Altersarmut rutscht. Mehr Betriebsräte, mehr und bessere Tarifverträge, das ist meine Agenda für die nächsten Jahre“, kündigt er an.

Der Gewerkschafter fordert zugleich mehr Einsatz der Politik für die Beschäftigten: „Im Hotel- und Gaststättengewerbe gibt es nach über einem Jahr Pandemie und Betriebsschließungen für die Beschäftigten immer noch kein Mindestkurzarbeitergeld. Das ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung. Die Verdienste dort waren schon vor der Pandemie niedrig, viele Beschäftigte kommen mit dem derzeitigen Kurzarbeitergeld nicht über die Runden.“

Lißner hat sich für die kommenden Jahre einiges vorgenommen: „Die Zeit, in der wir uns im Osten verstecken, muss endgültig vorbei sein. Kopf hoch statt runter! Wir brauchen bei den Beschäftigten mehr Selbstbewusstsein, für ihre Interessen zu kämpfen. Das will ich befördern. Die Kämpfe in den Betrieben der Ernährungswirtschaft in Sachsen im letzten Jahr und die Erfolgsstory von Teigwaren Riesa zeigen, wir sind auf dem richtigen Weg. Beschäftigte 2. Klasse, egal ob beim Lohn oder der Arbeitszeit darf es 30 Jahre nach der Deutschen Einheit nicht mehr geben. Dafür will ich streiten.“

Dem WochenENDspiegel gab er folgendes Interview

WOCHENENDSPIEGEL
Sie fordern höhere Löhne in der Branche, damit später keine Altersarmut droht. Ist es nicht unverschämt, mitten in der Pandemie nach mehr Geld für die Beschäftigten zu rufen, zumal die Bundesregierung die Grundversorgung einführt?

THOMAS LISSNER:
Preissteigerungen gibt es trotz Pandemie und Beschäftigte müssen diese auch kompensieren. Dazu haben die Beschäftigten in vielen unserer Branchen gerade durch Corona mehr zu tun. Somit ist die Forderung nach mehr Geld für die Beschäftigten nicht unverschämt, sondern auch in der Pandemie erforderlich.
Unsere Tarifrunde in der Ernährungswirtschaft Sachsen(z.B. Bautzner Senf, Frosta, Unilever) im letzten Jahr, hat ebenfalls gezeigt, dass selbst in der Pandemie Abschlüsse im zweistelligen Bereich möglich sind. Wenn es immer noch Lohnunterschiede zwischen Ost und West von 700 Euro im Durchschnitt gibt, ist Handeln erforderlich. Dieses Handeln nimmt uns auch die Politik durch den Mindestlohn nicht ab. Zumal der Mindestlohn noch viel zu niedrig ist, um vor Altersarmut zu schützen.

WOCHENENDSPIEGEL:
Wozu braucht es eigentlich noch Gewerkschaften. Unternehmen müssen auch ohne sie gutes Geld zahlen, wenn sie gutes Personal bekommen möchten. Dazu hat die Bundesregierung mit der Einführung des politischen Mindestlohnes Ihre Organisation doch auf das Abstellgleis bugsiert…?

THOMAS LISSNER:
Gewerkschaften sind wichtig und überall dort wo keine Gewerkschaft aktiv ist und es auch keinen Betriebsrat gibt, sind oft die Bedingungen und Löhne schlecht. Im letzten Jahr hat Haribo verkündet sein Werk in Wilkau-Hasslau zu schließen. Ohne die gut gewerkschaftlich organisierte Belegschaft und ihren Kampfeswillen, hätte uns die Konzernleitung von Haribo mit einem miserablen Sozialplan abgespeist.
Von allein ändern sich weder die Bedingungen noch die Gehälter im erforderlichen Maße, das haben die letzten 30 Jahre gezeigt. Gerade wir haben in den letzten Jahren gemerkt, dass es in Sachsen ein neues gewerkschaftliches Selbstbewusstsein gibt. Die Beschäftigten wollen ihre Bedingungen und Gehälter selbst mitgestalten und dies geht nach wie vor am besten in Gewerkschaften und mit Tarifverträgen.
Der Mindestlohn hat vielen Menschen in Sachsen geholfen, er reicht aber nicht aus. Es gibt viele Branchen und Betriebe die Milo bezahlen oder ein paar Cent darüber, es gibt dabei oft keine Differenzierung zwischen gelernten und ungelernten Beschäftigten. Die Leute in unseren Bereichen haben einfach mehr für ihre gute und harte Arbeit verdient als nur Milo und „Nasenprämie“.
Mindestlohn ist wichtig – keine Frage. Was wir aber brauchen, sind gute Tarifverträge und das haben viele Beschäftigte erkannt. Gewerkschaften sind die Lokomotive, das Verteufeln von Gewerkschaften und das Festhalten am Milo gehört dagegen auf das Abstellgleis.

WOCHENENDSPIEGEL:
Sie sagen, es dürfe keine Beschäftigten zweiter Klasse mehr geben. Ist das nicht auch nur ein Phrase? Im Westen werden noch in den nächsten Jahrzehnten höhere Löhne für die gleiche Arbeit gezahlt werden. Oder?

THOMAS LISSNER:
Wir müssen als Gewerkschaft entschlossen dagegen ankämpfen, dass dieser Fakt auch in den nächsten zehn Jahren so bleibt. Mit unserem NGG-Motto „Lohnmauer einreisen“ handeln wir aktiv in unseren Betrieben und entwickeln gemeinsam Angleichungspläne, der aktuelle Tarifabschluss bei den Lichtenau Mineralquellen ist dabei beispielhaft. Es gibt keinerlei Rechtfertigung mehr, warum es nach 30 Jahre deutscher Einheit solche Unterschiede bei Lohn und Arbeitszeit zwischen Ost und West gibt.

Thomas Lißner. Foto: NGG

*Thomas Lißner, 42 Jahre, geboren und wohnhaft in Annaberg-Buchholz, begann seine Ausbildung bei dem Bäckerbetrieb Annaberger Backwaren und arbeitete dort 19 Jahre als Bäcker, erwarb seinen Meisterbrief im Bäckerhandwerk und absolvierte sein Studium in Betriebswirtschaft. Bei Annaberger Backwaren war er Vorsitzender des Betriebsrates und setzte gemeinsam mit den Beschäftigten einen Tarifvertrag durch. 2014 begann er bei der Gewerkschaft NGG eine Ausbildung zum Gewerkschaftssekretär und ist seit dem Jahr 2016 als Gewerkschafter für die Interessen der Beschäftigten in der Lebensmittelwirtschaft im Einsatz. Im Raum Dresden-Chemnitz hat die NGG derzeit etwa 4.700 Mitglieder.
In der Region gehören dazu bekannte Betriebe wie Bautz’ner Senf, das FRoSTA-Werk in Lommatzsch, f6, alle Brauereien oder der Nudelhersteller Teigwaren Riesa. In diesen und anderen Betrieben konnte die NGG in den vergangenen Jahren mit Streiks gute Tarifabschlüsse durchsetzen. Die NGG vertritt zugleich Beschäftigte aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe wie auch der Systemgastronomie mit Unternehmensketten wie McDonald’s, Burger King, Starbucks oder Nordsee.