Start Mittelsachsen Freiberg zieht die Notbremse - Stadtrat stimmt mit Mehrheit für Zuzugsstopp
Artikel von: Constanze Lenk
01.02.2018

Freiberg zieht die Notbremse – Stadtrat stimmt mit Mehrheit für Zuzugsstopp

Großes Medieninteresse beim Pressegespräch vor der Freiberger Stadtratssitzung.
Foto: Constanze Lenk

Freiberg war im vergangenen Jahr die erste Stadt, die sich gewagt hat, Dinge beim Namen zu nennen und hat die Kosten der Stadt für die immensen Leistungen, die mit der Unterbringung und Integration von Flüchtlingen und Asylsuchenden einhergingen als Rechnung an die Bundeskanzlerin gesandt.

Heute (1. Februar) sorgte Freiberg wieder für großes Medieninteresse, denn der Stadtrat hatte als Punkt 4 der Tagesordnung über einen Beschluss zur Beantragung einer negativen Wohnsitzauflage (Zuzugsbeschränkung) abzustimmen. Mit 23 Ja-Stimmen, 6 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen zog nach anderhalbstündiger Diskussion die Universitäts- und Silberstadt Freiberg die Notbremse. Damit wird ab sofort alles versucht, um einen Zuzugsstopp nach §12a Bundesintegrationsgesetz für die Stadt Freiberg zu erwirken. Dies beschloss der Stadtrat und begrenzte den Zuzugsstopp zugleich auf vier Jahre nach erfolgreicher Bescheidung.

„Das müssen wir tun, uns bleibt gar keine andere Wahl“, begründet Oberbürgermeister Sven Krüger (SPD) diesen drastischen Schritt. Es ist für OB Krüger nach vielen Versuchen und Appellen an die Verantwortlichen auf Kreis-, Landes- und Bundesebene – der Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel blieb bis heute unbeantwortet – die letzte Option, um die bisherige gute Integrationsarbeit in der Stadt nicht zu gefährden: „In Freiberg haben wir ein Maß erreicht, wo wir handeln müssen, bevor wir handlungsunfähig werden!“

Deshalb will OB Krüger nach Salzgitter, Delmenhorst, Wilhelmshafen und Cottbus nun auch für Freiberg einen Zuzugsstopp für Asylsuchende erwirken. Es sei der einzige Weg, um sowohl den Ansprüchen aller Freiberger auf einen Kita- oder Schulplatz sowie den eigenen Ansprüchen an gute Integrationsarbeit gerecht zu werden.

Rund 2.000 Flüchtlinge/Asylsuchende leben derzeit in der 42.000 Einwohner-Stadt zwischen Dresden und Chemnitz. Das sind etwa fünf Prozent der Bevölkerung, aber auch zirka 70 Prozent der Asylsuchenden des gesamten Landkreises Mittelsachsen.
„Genug“, meint OB Krüger. „Diese ungleiche Verteilung verkraftet unsere Stadt aktuell nicht mehr!“ Denn im Gegenzug zähle der Anteil von Freibergerinnen und Freibergern an der Einwohnerzahl des Landkreises lediglich zirka 13 Prozent.

Freiberg hat sich vom ersten Tag an den Herausforderungen des Flüchtlingsstroms gestellt, unterstützt von unzähligen Ehrenamtlichen. Gemeinsam konnte der nahezu ungesteuerte Flüchtlingszuzug bewältigt werden.

Um die Integration der Flüchtlinge zu fördern und zugleich ein respektvolles Zusammenleben aller zu gewährleisten, hat OB Krüger schon 2015 rasch gehandelt: Eine Asylkoordinatorin wurde eingestellt und 2016 der Stadtordnungsdienst initiiert, wichtige Akteure haben sich unter seiner Leitung regelmäßig in der Koordinierungsgruppe Asyl/Integration abgestimmt sowie Räumlichkeiten und Materialien für DaZ-Kurse bereitgestellt.

Außerdem wurden und werden weiterhin neue Kindertagesplätze geschaffen – erst vor wenigen Tagen ist eine weitere Kita mit 100 zusätzlichen Plätzen fertig gestellt worden, und drei weitere zusätzliche Kindertagesstätten müssen kurzfristig folgen, die allerdings nur den derzeit erkennbaren Bedarf absichern können.

Herauszuheben ist hier die seit 2015 tätige temporäre Kindertagesstätte „Blütenhaus“. Das auf Kinder mit Fluchterfahrung angelegte Konzept umfasst 34 Plätze mit zusätzlichen Angeboten für das pädagogische Fachpersonal wie auch für die Elternarbeit durch drei muttersprachliche Kräfte. Insgesamt können hier bis zu 17 Kinder mit Migrationshintergrund betreut werden.

Die Stadtverwaltung Freiberg bietet selbst umfangreiche soziale Beratungen an und finanziert überdies verschiedene Vereine mit Beratungs- und Freizeitangeboten für Flüchtlinge. Im Bereich Soziales und Jugend werden u. a. im CJD-Mehrgenerationenhaus „Buntes Haus“ Beratungen für Migranten angeboten. Im Jugendzentrum Pi-Haus gibt es einen Kinder- und Jugendtreff, der überwiegend durch Zuwanderer in Anspruch genommen wird.

Auch die Freiberger Tafel der Caritas, das Familienzentrum des Deutschen Kinderschutzbundes Freiberg, die VdK-Begegnungsstätte Schillerstraße 3 und das Frauenschutzhaus stellen Angebote und Räumlichkeiten für zugewanderte Menschen bereit.

Darüber hinaus arbeitet die Stadtverwaltung Freiberg schon seit vielen Jahren in enger Zusammenarbeit mit Vereinen und Initiativgruppen zur Förderung des interkulturellen Lebens in der Stadt Freiberg und beteiligt sich u. a. am jährlichen Fest der Kulturen.

Und das ist längst nicht alles: „Wir bauen und erweitern für fast 15 Millionen Euro in diesem und nächsten Jahr die Grundschule „Agricola“ und die Oberschule „Ohain“. Außerdem wollen wir Fördermittel des Bundes nutzen, um nochmals mehr Platzangebot für Schulen zu schaffen, wo Deutsch als Zweitsprache angeboten wird, die Räume aber längst aus allen Nähten zu platzen drohen.“

Dass das alles Ressourcen kostet – von Mitarbeitern bis hin zum Stadtsäckel, ist allen klar. Dennoch: Freiberg ist weiter bereit, sich dieser Herausforderung zu stellen. Aber: Trotz breitem Netzwerk zur Integration, stoße er als Oberbürgermeister immer öfter an die Grenzen des Möglichen. „Der Handlungsbereich einer Stadtverwaltung, der hier ansässigen Wohnungsunternehmen und der Bürgerinnen und Bürger ist begrenzt.“

Durch den Zusammenfall von hoher Geburtenquote, auf die sich Freiberg im Schulbereich gut vorbereiten konnte, mit dem nicht vorhersehbaren Bedarf durch Zuwanderung, fehlen derzeit neben ca. 300 Plätzen in Kindertageseinrichtungen (20 Krippe, 280 KiGa) vor allem Schul- und Hortkapazitäten. „Wenn durch weitere Migration oder Familiennachzug akut weiterer Bedarf entsteht, können wir dies nicht mehr leisten.“

Im Umfeld der Freiberger Zentral-Unterkunft sind die Herausforderungen an die Infrastruktur besonders deutlich: Hier gibt es in Schulen und Kindertagesstätten oft einen 30-prozentigen Anteil von Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, in Einzelfällen liegt dieser sogar bei bis zu 50 Prozent. „Wie soll hier Integration machbar sein?“, fragt Krüger.

Bereits seit 2016 nutzen sieben Kindertageseinrichtungen das Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ – denn „Sprache ist der Schlüssel“, betont Krüger. Im letzten Jahr beantragt und 2018 umgesetzt werden soll das Programm „Kita-Einstieg“, was sich besonders an Einrichtungen richtet, die sich der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund stellen. Hier sind die notwendigen und nicht geplanten Eigenmittel durch Umwidmungen im städtischen Haushalt bereitgestellt.

Zunächst untergebracht in drei zentralen Aufnahmeeinrichtungen, von denen eine inzwischen geschlossen ist, leben heute viele Flüchtlings-Familien in Wohnungen in der gesamten Stadt: Die Städtische Wohnungsgesellschaft Freiberg/Sa. AG hat 142 Wohnungen, die Wohnungsgenossenschaft Freiberg e.G. 110 Wohnungen und die TAG Wohnen und Service GmbH 45 Wohnungen an Flüchtlinge/Asylsuchende vermietet. Die Wohnungen der Flüchtlinge sind im gesamten Stadtgebiet verteilt. Da das Wohnungsangebot in einigen Gebieten mittlerweile erschöpft ist, konzentriert sich die Unterbringung mittlerweile auf zwei Stadtteile. Die Auswirkung dessen wird besonders in Kitas und Schulen deutlich.

Die Ursache der Konzentration in Freiberg sieht OB Krüger vor allem in der Unterbringungspolitik des Landkreises: Frei werdender Wohnraum in der Zentralunterkunft durch Auszug in eine Wohnung in Freiberg, wird postwendend neu belegt. Es werden also immer mehr Asylsuchende in die Stadt Freiberg geleitet.

Freibergs Stadtoberhaupt fordert daher seit Monaten, dass Flüchtlinge gerechter und gleichmäßiger auf alle Kommunen und Gemeinden des Landkreises verteilt werden. Bislang erfolglos!

Deshalb fordert er weiter eine gemeindescharfe Zuweisung, damit Integration überhaupt gelingen kann. Der Gesetzgeber hat im letzten Jahr das Problem erkannt und Möglichkeiten eröffnet. Insbesondere im Bundesintegrationsgesetz wurde die Wohnsitzregelung überarbeitet. Die Stadt will deshalb jetzt bei der Landesregierung einen offiziellen Antrag auf einen Zuzugstopp für Freiberg stellen.

Um die Situation bis zur Entscheidung der Landesregierung zu stabilisieren, sind laut OB Krüger bereits jetzt Maßnahmen erforderlich: „Ich werde die drei großen Freiberger Wohnungsunternehmen Städtische Wohnungsgesellschaft Freiberg/Sa. Aktiengesellschaft (SWG), Wohnungsgenossenschaft Freiberg eG (WG) und TAG Wohnen und Service GmbH nun darum bitten, dass vorerst keine weiteren Wohnungen für Asylsuchende bereitgestellt werden. Damit sind Neuvermietungen nur noch bei frei werdenden Wohnungen vorgesehen.“

Unumgänglich ist ebenso die Integration in den Arbeitsmarkt. Doch auch nach drei Jahren Integrationsarbeit erschwerten oft noch immer Sprach- und Kulturbarrieren die Vermittlung. Positive Beispiele wie der Einsatz von zwei syrischen Flüchtlinge in einer Freiberger Konditorei bzw. der Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten im Freiberger Rathaus sind da noch Ausnahmen.

Aber auch hier wird in Freiberg gehandelt: Außer dem AWO-Migrationsdienst und dem Projekt „PuB Mittelsachsen – Patendienst und Beratungskoordination für Zuwanderinnen und Zuwanderer im Landkreis Mittelsachsen“ wird durch das Regionale Bildungszentrum Eckert gGmbH eine qualifizierte Beratung für Menschen mit Migrationshintergrund angeboten. Die Flüchtlingsberatung und Ehrenamtskoordination der Diakonie Freiberg musste Ende 2017 wegen Auslaufen der Förderung eingestellt werden.

Der OB ist überzeugt: Es darf kein „weiter so“ geben, Freiberg braucht eine gesunde Basis, damit auch in Zukunft ein friedvolles Zusammenleben aller Freibergerinnen und Freiberger erreicht werden kann.