Start Gegen das Vergessen
Artikel von: Judith Hauße
01.10.2021

Gegen das Vergessen

Karlheinz Reimann betreibt den Blog unter www.chemnitzer-geschichten.deFoto: Judith Hauße

„Chemnitzer Geschichten“ zum Tag der deutschen Einheit

Die Schlagzeilen zum 3. Oktober 1990 waren nicht zu übersehen. Ein Tag, der ein Jahr später auf den Mauerfall (9. November ) folgte. An dem Freude und Leid nah beieinander lagen. Und so unterschiedlich die Gefühle der Menschen zu diesem Zeitpunkt waren, so verschieden sind auch ihre Geschichten, die sie an diesem Tag erlebt haben. Für andere war es ein Tag wie jeder andere. „Habe ich bloß nebenbei mitbekommen“, so die damalige Antwort einige.

Andere wiederum sahen darin den Beginn von etwas Neuem. Für Karlheinz Reimann bleiben die Tage unvergessen, „weil sie die Welt, aber auch die Biografie vieler Menschen entscheidend verändert haben“, schreibt der ehemalige Entwicklungsingenieur in seinem Blog „Chemnitzer Geschichten“. Nicht wenige verloren ihren bisherigen Arbeitsplatz und mussten sich umstellen, anderen erwuchsen bisher ungeahnte Chancen, hierzulande oder in der Welt.

Der heute 82-Jährige war Initiator des im Frühjahr 1990 gegründeten Gemeindeboten in Kleinolbersdorf-Altenhain. Unter der Überschrift „3. Oktober – Tag der deutschen Einheit“ erschien damals die erste Ausgabe des Dorfblattes. Man habe damit versucht, die Kommunikation zwischen Gemeindeverwaltung und Einwohnerschaft aufrechtzuerhalten, „sie zu verbessern“, erinnert sich Reimann, der bis 2020 selbst zahlreiche Beiträge darin veröffentlichte. Die Zeit beim Gemeindeboten sei für ihn zwar vorbei, die Beiträge aber bleiben, haben „historischen Wert“, sagt er. Sie sollen nicht dem Papierrecycling übergeben werden, sondern fortgeschrieben und um neue Kurzgeschichten ergänzt werden.

Die erste Ausgabe des „Gemeindeboten“ in Kleinolbersdorf-Altenhain über den 3. Oktober 1990. Foto: Privat

Erinnert wird in den Chemnitzer Geschichten unter anderem an die Friedliche Revolution im Herbst 1989 und den kommunalen Neubeginn ab Frühjahr 1990. In der „Chronik der Wendezeit“ beschreibt Karlheinz Reimann die Wiedervereinigung als „Glücksfall der Geschichte“ und nicht als selbstverständliches Ereignis. Er skizziert die damalige Zeit, ihre Hintergründe und Entwicklung. Dabei besinnt er sich in die Zeit im Herbst 1989 zurück, jedoch nicht ohne dabei auch Rückschlüsse auf das Heute zu ziehen, gepaart mit einem authentischen Streifzug durch das eigene Erlebte. „Als Vorsitzender des Gemeinderates Kleinolbersdorf-Altenhain in den ersten vier Jahren war ich unter anderem auch an der Umgestaltung unserer beiden Dörfern beteiligt“, erzählt er und verweist auf das Geheimnis des Wäldchen vor dem Adelsbergturm und den schwierigen Neubeginn, der an die Zeit der Wendebewegung in beiden Ortschaften anknüpft und über das er seine persönlichen Erinnerungen schriftlich im Blog festgehalten hat. „Eine Geschichte von Bestandsaufnahme, anfänglicher Ratlosigkeit, Herausforderungen, Überraschungen, Schwierigkeiten und beachtlichen Erfolgen“, schreibt er im Artikel.

Weitere Beispiele für eine heimatverbundene Exkursion in die Zeit der Wendebewegung zeigen sich, wenn der 82-Jährige an „30 Jahre Friedliche Revolution in Kleinolbersdorf-Altenhain“ erinnert. „Diese Entwicklung hat im Jahr 1989 viele Menschen geprägt wie in keinem anderen vorher. “, schreibt Reimann, der dabei die Ziele und Wünsche der Einwohner in ihrer Entwicklung treffend beschreibt, auch weil er selbst auf den damaligen Bürgerversammlungen in der Kleinolbersdorfer Kirche zugegen war.

Entgegen aller Erwartungen seien immer viele Einwohner anwesend gewesen. Überraschend auch für Reimann, er schreibt zur ersten Bürgerversammlung am 26. Oktober 1989: „Das Demokratieverständnis muss nach Jahrzehnten der „Diktatur des Proletariats“ – welch ein Euphemismus! – erst wieder erlernt werden.“ Der Kirche spricht er dabei in der damaligen Situation eine wichtige Vermittlerrolle zwischen den Bürgerinitiativen und Organen des Staates zu. „Es war eine Friedliche Revolution unter Führung von Pfarrern und Rechtsanwälten, die Menschen in der ganzen Welt hat erstaunen lassen.“

Er verweist aber auch darauf, dass die Bürger zunächst bloß eine Reformation der DDR forderten, die „Abschaffung der DDR und Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik stehen zu dieser Zeit nicht zur Diskussion.“ Konkreter wurden diese Vorstellungen erst auf der zweiten Zusammenkunft am 9. November 1989 – noch ehe die Nachricht vom Mauerfall die Runde erreichte, wie er schriftlich festhält: „Große Zweifel werden geäußert, „ob die DDR aus eigener Kraft überhaupt wieder auf die Beine kommen kann.“
Zudem wird an diesem Abend ein Demonstrationsaufruf zur regelmäßigen Montagsdemo in Karl-Marx-Stadt verlesen und zur Vervielfältigung verteilt. Was danach passierte, ist „in die Geschichte eingegangen als Tag der Erstürmung und des Falls der Berliner Mauer.“

Auf dem Weg hin zur Wende sieht Reimann den damaligen Pfarrer Lothar Popp „als tragende Säule der gesellschaftlichen Erneuerung in unserer Gemeinde, besonders bei der Demokratisierung von Schule und Kindergarten.“

Im Spätsommer 2019 verschriftlicht er im Beitrag „Erinnerung an 30 Jahre Wende und Wiedervereinigung in Kleinolbersdorf-Altenhain?“ seine Gedanken an den historischen Zeitabschnitt, blickt noch einmal auf die Bürgerbewegung 1989 und macht einen gedanklichen Ausflug in die Gegenwart. „Geschichte vergessen, Geschichte verdrängen, Geschichte verfälschen fängt klein an und hat heute in unserem Land mancherorts erheblich zugenommen“, so die Worte des Hobby-Bloggers, der eines gerade nicht will: Geschichte vergessen! Das Genre eines Blogs habe der gebürtige Chemnitzer deshalb bewusst für seine Geschichten ausgewählt, wie er sagt. „Nichts ist abgeschlossen, alles ist offen, es kann etwas herausgestrichen werden oder Neues hinzukommen, denn im Gegensatz zu einem Buch lebt ein Blog.“

Mit den im Blog widergegebenen Leserzuschriften biete er Lesern auch die Gelegenheit, sich über das Geschriebene auszutauschen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. „Ich freue mich über jede Leserstimme, auch wenn sie noch so kritisch ist.“
Reimanns erste Kritikerin bleibt aber seine Ehefrau Elfriede. „Sie ist diejenige, die alle Beiträge als Erste zum Lesen bekommt und unterstützt mich wo sie kann. Dafür bin ich ihr dankbar.“ Sie sei es auch gewesen, die ihn gemeinsam mit Sohn Jörg zum 75. Geburtstag mit einem Fotobuch überraschte, in dem ein Teil der bis dato erschienenen Geschichten enthalten sind. „Mein Sohn trug an diesem Tag die Kleidung meines Mannes und las ihm aus dem Buch vor“, erinnert sich die 81-Jährige mit einem zu ihrem Mann gewandten Lächeln.

Inzwischen wurden etwa 25 Exemplare angefertigt, wovon eines auch den Weg in die Chemnitzer Stadtbibliothek fand.  Doch auch außerhalb von Chemnitz erreicht der Blog „Chemnitzer Geschichten“ die Menschen, unter anderem aus der Schweiz, Kanada über Brasilien bis nach China. Über 20.000 Nutzer, 25.000 Sitzungen und 50.000 Seitenaufrufe zählt der Blog seit Beginn. „Sie alle ermutigen mich, die Arbeit fortzusetzen und weiter gegen das Vergessen des Erlebten zu schreiben“, sagt Karlheinz Reimann, der vor allem auch die jüngeren Generationen damit erreichen will.