Start Erzgebirge Ich überlebte das zweite Auschwitz
Artikel von: Sven Günther
14.02.2020

Ich überlebte das zweite Auschwitz

Werner Lachmann. In seinem Garten blüht die Zaubernuss. Doch der Mann hat noch viel mehr zu erzählen. Foto: Uwe Zenker

Bei Lachmanns blüht die Zaubernuss…

Von Sven Günther
Bernsbach. Es sind nur ein paar Schritte. Werner Lachmann, 91 Jahre alt, geht langsam zu dem prächtigen Strauch vor seinem Haus, schaut sich die gelben Blüten an und schüttelt den Kopf: “Das gab es auch noch nicht. Die Zaubernuss blüht Anfang Februar, eigentlich treibt sie erst im März aus. Schade, dass meine Anneliese das nicht sehen kann.”
Anneliese, seine Frau, ist mit ihren 86 Jahren nicht mehr bei bester Gesundheit. Die Beine. Sie wird im Heim betreut. “Den Strauch, eigentlich ist es ein Baum der Gattung Hamamelis, habe ich Anneliese zum 75. Geburtstag geschenkt”, lächelt der rüstige Rentner als er wieder im Haus ist. Er nimmt ein altes Foto zur Hand, streicht mit knorrigen Fingern über das Bild. “Meine Anneliese”, sagt er leise. “Wir haben uns 1951 kennengelernt, wenig später geheiratet und sind immer noch zusammen. Es ist ein Wunder, dass wir uns überhaupt gefunden haben. Vorher hätte ich tot sein können.”
Werner Lachmann wuchs in Liegnitz (Niederschlesien) auf. Mit 17 Jahren wurde er zum Volkssturm gezwungen, am 28. April 1945 kam er in russische Gefangenschaft. Hunger. Kälte. Schläge. “Wir mussten in Oberschlesien die Schaffgotschen Benzinwerke und das Hermann-Göring-Werk demontieren. Dann ging es nach Auschwitz”, erinnert sich der Rentner. Der Transport in einem Viehwagon. So wie in den Jahren vorher hunderttausende Juden. Lachmann: „Die Polen hatten die Aufsicht, haben uns behandelt wie Verbrecher, auch wenn ich mit meinen 18 Jahren kein Täter war. Wir demontierten die Baracken, sprengten das Krematorium. Zuletzt musste ich im Eiswinter 1946/47 mit zwei Kameraden den Stacheldraht abreißen und auf eine Rolle wickeln. Die Leute sind massenhaft gestorben. Ich habe überlebt, weil ich klein und zäh war.”
1948 stieg er wieder in einen Zug. Den Zug nach Deutschland. Lachmann kam nach Naumburg, fand dort seine Eltern wieder. Doch ohne Ausbildung hatte er keine Perspektive. Nur einen zerschlissenen Schlosseranzug, eine alte Wehrmachtsjacke und 50 Mark. Mehr hatte der Heimgekommene nicht.
“Durch Zufall erfuhr ich, dass im Erzgebirge in Fabrikgebäude Wohnungen gebaut werden. Wohnungen für die Wismut-Kumpel,” erzählt Lachmann. “Damals hörte ich den Begriff das erste Mal, packte meine Sachen und fuhr nach Bernsbach. Das war am 16. März 1949, drei Tage vor meinem 20. Geburtstag.”
Noch heute erinnert er sich, wie er vom Bahnhof im Tal den steilen Weg ins Zentrum des Ortes hinaufstieg, denkt gern an die Familie zurück, bei der wohnen konnte und die ihn wie den eigenen Sohn behandelte. Lachmann: “Irgendwann war es auch mit dem Wohnungsbau vorbei und alle schwärmten von der Wismut, wo es gutes Geld zu verdienen gab.” Auch er stellte sich in Johanngeorgenstadt vor, sah Baracken, Russen mit Maschinenpistolen – und sagte: Nein, danke. “Das erinnerte mich alles zu sehr an die Gefangenschaft. Es war nichts für mich”, so der Rentner, der trotzdem von der Wismut profitierte. Lachmann: “Weil alle in den Berg einfuhren, fanden die anderen Firmen kaum noch Leute. So kam ich zur NAGEMA, aus der später die BLEMA wurde. 41 Jahre war ich dann dort als Bohrwerkdreher tätig. 1990 musste ich in den Vorruhestand gehen.” Schon damals wurden im Werk Maschinen zur Blechverarbeitung produziert. Heute gehört die Firma zur Unternehmensgruppe des FCE-Präsidenten Helge Leonhardt.
“Ich habe es nie bereut, ins Erzgebirge gekommen zu sein”, lächelt Lachmann und sieht aus dem Fenster auf seinen blühenden Zaubernuss-Busch. “Warum auch. Hier habe ich ja auch meine Anneliese kennengelernt, irgendwo auf einer Tanzveranstaltung die es dreimal in der Woche in den Gasthäusern gab. Sie war damals erst 17, hatte gerade ihren Vater verloren. Es war Liebe auf den ersten Blick, die ein ganzes Leben lang gehalten hat. Ich hoffe, sie kommt wenigsten zu Besuch noch einmal heim. Sie muss doch ihre blühende Zaubernuss sehen…”

Werner und Anneliese Lachmann. Foto: privat