Start Chemnitz Wovor haben wir Angst?
Artikel von: Judith Hauße
30.12.2022

Wovor haben wir Angst?

Jeder versteckt sich hinter seiner eigenen Welt. Führen wir diese Welten endlich wieder zusammen. Symbolbild: pexels.com

Ein Kommentar von Judith Hauße, stellv. Chefredakteurin WochenENDspiegel

Müde Gesichter – wohin das Auge reicht. Müde von Corona. Müde vom Krieg. Müde vom Energiesparen. Dabei wollen wir doch einfach nur zurück zum Anfang. Als Kind ging das leicht. Da wurde bei den Kassetten auf die Taste zum Zurückspulen gedrückt und schon war man wieder in der heilen Welt zuhause. Das funktioniert in der realen Gegenwart aber nicht.

Wie gern wir auch auf den Reset-Knopf drücken wollen, eine Normalität, wie wir sie vor Corona und Co gelebt haben, existiert bloß noch in unserer Erinnerung. Natürlich war auch zu dieser Zeit nicht alles perfekt, Kriege, Ungerechtigkeit und Leid gab es auch schon vor der Pandemie – und doch fühlt sich die momentane Zeit einfach anders, extremer an. Ist das bloß ein Gefühl oder die Übertreibung des Jahres?
Übertreibe ich, wenn ich sage, ich habe Angst nach 18 Uhr in der Innenstadt zu sein?

Übertreibe ich, wenn ich behaupte, mit dem Gendern lösen wir nicht die eigentlichen Probleme dieser Gesellschaft – nämlich Ungerechtigkeit und Intoleranz? Übertreibe ich, wenn ich das Recht auf freie Meinungsäußerung fordere – ohne dabei das Messer der Verurteilung im Rücken zu spüren?

Schon allein jetzt, in diesem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, erscheint gedanklich ein großes Fragezeichen: Darf sie das? Handelt es sich überhaupt um eine SIE? Darf ich noch metaphorisch von „Messern im Rücken“ schreiben oder ist das in der momentan verdrehten Sprachwelt ein Verharmlosen von Gewalt?

Was dürfen wir noch sagen? Wann und wie viel dürfen wir uns noch äußern? Der gesunde Streit, den wir auch Diskussion nennen, wirkt aktuell toxisch auf uns. Jeder lebt in seiner kleinen Blase, in der nur die eigene Wahrheit, das eigene Wohl und die eigenen Werte leben. Außerhalb dieser Blase würde all das nicht überleben.
Wo bleibt unser Überlebensinstinkt? Sind wir als Gesellschaft wirklich so weichgespült? So mürbe von all den Krisen um uns herum?

Wovor haben wir bloß solche Angst?

Sollten wir aus unserer Blase ausbrechen, sie aufstechen wie eine Blutblase oder ist der Druck bereits so groß, dass sie vor Schmerzen doch irgendwann von allein aufplatzt und noch mehr verschmutzt wird als es so schon der Fall ist?
Lieber sollten wir den Druck schon vorher rauslassen, starke Reibungen vermeiden und es gar nicht erst zur Blasenbildung kommen lassen.